Gestern kreuzte eine frische kleine Freude meinen Weg. Ich stehe auf der Straße und warte. Das tue ich manchmal, weil ich zu früh bin und ein Laden erst um 14 Uhr wieder öffnet oder ein Kind gleich irgendwo herauskommt, um abgeholt zu werden. Während ich warte, gehe ich ein bisschen hin- und her, bleibe wieder stehen und wippe von einem Fuß auf den anderen. Ich überlege, mein Handy herauszuholen, weil ich im Warten nicht mehr geübt bin. Ich könnte so tun, als hätte ich eine wichtige Nachricht zu lesen, müsste den Weg nachschauen oder dringend jemanden anrufen. Man steht eben nur noch selten einfach so in der Gegend herum.
Aber heute ziehe ich es durch und schaue nur ein bisschen umher. Ein Backsteinhaus, ein modernes daneben, ein Postkasten, ein alter Baum. Ich schaue auf das Pflaster vor mir und auf das Unkraut, das zwischen den Platten nach oben drängt. Ich denke an meinen eigenen Gehwegteil, um den ich mich jetzt kümmere und an die Kuhblumen dort, um die ich mich auch einmal wieder kümmern könnte. Ich überlege, wie ungewohnt es noch scheint, einen Teil des Gehweges anvertraut zu bekommen, den man schneebereinigen und streuen und hübsch halten sollte. Ein kleines Stück privat, das in die Gemeinschaft reicht. Vielleicht klappt es mit dem Zusammensein besser wegen dieser kleinen Dinge, überlege ich. Weil jeder dieses kleine Stück Verantwortung hat und sich im Winter morgens früh den Wecker stellt, um es zu beräumen, während man in Berlin bei Schneewetter nur kurz vors Haus tritt und sich ärgert, dass die Stadtreinigung noch nicht da war.
Zu kurz gedacht, kommt mir dann gleich in den Kopf, weil ja auch hier die ordentliche Pflege der Gehwege jenseits meiner romantischen Vorstellung genug Konfliktpotential bietet und auch ich mich gleich ein wenig schuldig fühle ob meines eigenen Unkrauts bei dem Anblick zu meinen Füßen. Weil ein unkrautfreier Gehweg eben mehr ist, er ist auch Visitenkarte meiner eigenen Rechtschaffenheit.
Während ich also herumstehe und mir Gedanken darüber mache, ob kollektive Unkrautbekämpfung für den Kit einer Gesellschaft zuträglich wäre, fällt mein Blick auf eine Frau, die den gegenüberliegenden Gehweg herunterläuft. Sie beißt in eine Brezeltüte beziehungsweise in das letzte Stück, das sich vermutlich darin befindet und kommt schnellen Schrittes auf mich zu. Ich beobachte sie ein paar dieser Schritte, sie schaut auf, sieht mich und läuft weiter. Die Brezel ist inzwischen verzehrt, sie knüllt das Papier in ihrer Hand ein wenig zusammen, nur mit der einen Hand, in der anderen hält sie etwas anderes. Dann stoppt sie vor dem Briefkasten mir gegenüber und öffnet den Briefschlitz.
Und während ihre Hand mit dem zusammengefalteten Brezelpapier, was ja nun technisch gesehen Müll ist, schon beinahe im Kasten verschwindet, während ich kurz überlege, was ich da gerade beobachte, weil ein Postkasten ja kein Mülleimer ist, während ich überlege, ob sie nicht gesehen hat, dass sie jemand beobachtet, und mich anfange zu empören, ob sie nun wirklich vor meinen Augen ihren Müll einfach im Briefkasten entsorgen will, währenddessen stoppt sie in ihrer Bewegung, schaut sich um, schaut mich an, schüttelt mit dem Kopf und fängt an zu lachen. Sie hält meinen Blick, hebt die andere Hand, die einen Brief hält, winkt fast damit zu mir herüber, schüttelt nochmal lachend den Kopf, zieht das Brezelpapier aus dem Schlitz und steckt den Brief hinein. Sie hat sich einfach vertan. Und wir haben beide ein Lächeln auf dem Gesicht, ein echtes Lächeln nach einem Fehler, ein Lächeln der Selbstvergebung, der Güte sich selbst gegenüber. Eine unserer bedenklichsten Gewohnheiten im Denken ist ja, dass wir außergewöhnlich hart mit unseren eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten umgehen und dann noch härter werden, wenn wir sie bei anderen entdecken.
Und ich denke wie selten so etwas passiert, dass man gütig mit sich selbst ist und einfach eingesteht in Angesicht einer Fremden oder eines Freundes: „Was für’n blöde Aktion, da war ich nicht ganz bei mir.“ Viel öfter tun wir doch alle lieber alles dafür, um uns bloß nicht verletzlich zu machen. Erst kürzlich lief ich aus einem bekannten Fastfoodrestaurant, indem man nur noch per Touchscreen bestellen kann. Vor einem der Touchscreen stand ein Mann, wendete sich unverrichteter Dinge abrupt zur Seite, lief in mich und meinen Kaffee und lief weiter, als wäre nichts geschehen oder als hätte er nichts bemerkt, während er sich sauer schnaubend die Kaffeespritzer von der Jacke wischte.
Wie schade, dass wir alle miteinander so strategisch geworden sind. Dass wir keine Fehler mehr machen über die wir gemeinsam lächeln oder uns auch ärgern und dann lächeln können, wenn wir zu spät kommen, uns irren oder Mails an den falschen Verteiler verschicken. Wie schade, wo doch so viele kleine Begegnungen zu kleinen Freuden werden könnten, gerade wenn wir nicht strategisch sind, sondern auch einmal klein und ab und zu verschämt – und mutig.
Im November schreibe ich über kleine schöne Dinge, weil ich finde, dass unser Alltag gute PR brauchen kann. Mehr dazu hier. Es ging bereits um Kuchenpakete und fehlende Unterbekleidung.
Foto: flickr – Markus Spiske – CC-0
Wundervoll! Der Artikel macht, dass es mir direkt ein Stück besser geht. Nicht nur mit so manchen Zipperlein, sondern versöhnt mich ein bisschen mit … allem.
Schön wieder hier so oft mitzulesen :)
Wie schön, dass du hier bist! Und danke für die lieben Worte.
Oh Corinne, da sagst du was, das wärmt mir das Herz an diesem grauen Tag.
Wie schön!